Neues Leben langsam wahrgenommen

„Junge Leute schwer verletzt“ am 16.3.2014, im „Straubinger Tagblatt“

Im Jahre 2014 prallte ich als 18-Jähriger mit dem Auto gegen einen Baum. Meine damalige Freundin (17), saß neben mir. Wir beide erlitten dabei ein schweres Schädel-Hirn-Trauma SHT. Darüber hinaus hatte ich auch noch mit mehreren Knochenbrüchen und einem Riss im linken Lungenflügel zu kämpfen. Wir wurden beide ins künstliche Koma versetzt. Trotz der schlechten Aussichten überlebten wir beide - und ich wachte bereits ein paar Tage später wieder auf.

Aber plötzlich war alles anders. Ich wusste nicht, wo ich war. Ich konnte mich an nichts mehr erinnern, aber ich spürte: Alle um mich herum kümmerten sich. Die Neugier übermannte mich und ich stellte viele Fragen. Meine Familie beantwortete sie alle geduldig und so kamen die Erinnerungen langsam wieder zurück. Aber es fühlte sich alles seltsam und anders an als zuvor – als hätte ich ein Buch gelesen, dessen Handlung ich schon irgendwie kannte, aber nichts davon selbst erlebt hatte. Bis heute kann ich mich nicht an den Unfall erinnern.

Während meiner Zeit im Krankenhaus wurde mein Körper wieder Stück für Stück zurechtgeflickt und mein Überleben gesichert. Anschließend kam ich in die Reha-Klinik Schaufling (D). Dort erhielt ich einen Stundenplan mit verschiedenen Therapieeinheiten, um wieder mobil zu werden. Das bisschen Selbstorganisation und Verantwortung hatten mir sehr viel Spaß gemacht, da ich endlich wieder das Gefühl bekam, ein Stück Kontrolle zurückzugewinnen. Es gab Übungen im Kneippbecken, Gehirntraining und Geräte, die meine Beine automatisch bewegten. Dennoch fühlte ich mich an diesem Ort nicht so wohl. Denn außer zwei gleichaltrigen Frauen, waren dort ausschließlich ältere Patienten in der Klinik.

Generell erholte ich mich von den schweren Verletzungen aber sehr gut. Lediglich das Gleichgewichtsorgan im linken Ohr wird dauerhaft zerstört zurückbleiben. Für meine Freundin nahm der Weg eine andere Richtung. Sie verblieb im Wachkoma und kämpfte viele Jahre still weiter. Nach sechs Jahren durfte sie diesen Weg loslassen – sie verstarb infolge einer wiederkehrenden Lungenentzündung.

Dieser Schicksalsschlag hatte mein damaliges, unbeschwertes Leben natürlich sehr auf den Kopf gestellt. Ich stand kurz vorm Abitur und wollte eigentlich Sport studieren. Das hatte sich aber schlagartig geändert. Stattdessen war ich in meinem Heimatort Straubing (D) aufgrund des Unfalls auf einmal sehr bekannt und das hatte mir gar nicht gefallen. Alle trauerten und nahmen Anteil, während ich noch gar nicht realisieren konnte, was da eigentlich passiert war. Mein Körper musste erst mal dafür sorgen, dass ich überhaupt weiterleben konnte. Da war kein Platz für Emotionen und Selbstbestimmung. Mein Leben fühlte sich in dieser Zeit eher fremdbestimmt an, obwohl es theoretisch viele Möglichkeiten gab.

Deswegen zog ich dann nach Nürnberg (D), um Medizintechnik zu studieren. Dort kannte mich niemand. Aber auch in dieser größeren Stadt wurde ich nicht glücklich. Weil ich in Wien einmal Urlaub gemacht hatte und es mir dort besonders gut gefiel, zog ich dann 2020 für mein Masterstudium nach Österreich. Hier konnte ich mir ein Leben aufbauen, das sich richtig gut anfühlt.

Mittlerweile mache ich einen Lehrgang im Rahmen der Bildungskarenz, nachdem ich zwei Jahre in einem Software-unternehmen tätig war. Außerdem hatte ich mir Reisen ermöglicht und war vier Wochen in Vietnam und drei Monate in Südamerika. Dort wurde mir wieder so richtig bewusst, wie schön das Leben eigentlich ist!

Aktuell nehme ich mir viel Raum dafür, um zusammen mit therapeutischer Unterstützung das Leben in meinen letzten 11 Jahren zu verarbeiten. Die Zeit heilt vieles, aber manche inneren Wunden können nur aktiv geheilt werden. Hiermit will ich Mut machen, sich selbst diesen Raum dafür zu geben. Ich spüre bereits nach vier Monaten, wie gut mir und meinem Selbstwert das tut.

Losgelöst von selbstauferlegten Zwängen will ich mich in der Zukunft noch einmal neu erfinden. Dafür war nämlich nach der Schule kein Raum. Vielleicht will ich Psychotherapeut werden, vielleicht aber auch etwas ganz anderes. Ganz sicher will ich aber mein Leben in vollen Zügen genießen. Denn das verstehe ich heute darunter, meine „zweite” Chance zu nutzen. Ich bin mir sicher, dass wäre auch im Sinne meiner damaligen Freundin.

Andreas Schütz (ganz re) beim Treffen der SHG-SHT Wien