Früher hatte ich mit Astronauten und Piloten gefrühstückt und jettete durch die Welt. Ich war an Orten wie Valencia, Madrid, Dallas, Los Angeles, Seattle, Miami, Buenos Aires, Toulouse, Hamburg und Zürich zuhause. Ich war der Held in meinem abenteuerlichen Job in der Luft- und Raumfahrtindustrie und fand mich in allen Sphären zurecht. Heute finde ich nicht einmal mehr mein eigenes Postkasterl. Ich habe die Orientierung verloren. Wenn niemand bei mir ist, der mir hilft, verlaufe ich mich.
Alles begann mit meinem Herzinfarkt vor dreieinhalb Jahren. Es war ein Tag wie jeder andere. Und dann kam es zu dem unvorhersehbaren Moment und meine Welt hat sich um 180 Grad gedreht. Erst nach 45 Minuten konnten mich die Ärzte zurückholen. Aus dem Koma erwachte ich nicht wirklich. Eher glitt ich in einen Wachkoma-Zustand. Als ich nach gut einem Jahr langsam wieder zu mir kam, konnte ich nichts mehr. Ich musste alles von 0 auf wieder erlernen. Atmen, essen, sprechen, gehen. Koordinierte Bewegungen waren nicht mehr möglich. Ich kannte auch niemanden mehr. Nicht einmal die Frau, die jeden Tag an meinem Bett stand.
Doch ich hatte mich selbst nicht aufgegeben. Mein Wille weiterzumachen war stärker. Als oberösterreichischer „Sturschädel“ hieß es: Mit dem Kopf durch die Wand. Nicht immer hatten es die Therapeuten leicht mit mir. Denn ich hatte mir ihre Ratschläge zwar angehört, aber stets versucht, einen direkteren – also einen für mich besser passenderen – Weg zu finden. Einfach Dinge nachzumachen, widerspricht meiner Natur. Ich bin ein Tüftler und Denker. Lieber probiere ich es dreimal anders und komme selbst drauf, wie es geht, als dass ich einen Vorschlag blind übernehme – auch wenn er noch so gut gemeint ist.
Nach wie vor prasseln Informationen, die ich höre und sehe, auf mich ein wie bei einem Trichter. Nur ein Bruchteil davon kommt durch. Alles, was ich wahrnehme, kommt verzögert an. Der Reiz ist der Blitz, Sekunden später kommt er in Form eines Donners an.
Ich arbeitete über viele Monate hart an mir, um zurück ins Leben zu finden. Ich hatte bald Erfolgserlebnisse und dann wieder Rückschläge. Ich kämpfte jeden Tag – an manchen Tagen am meisten mit mir selbst. Es ist als würde man im Nebel sitzen. Anfangs geht es nicht nach vorne und auch nicht zurück. Als befände man sich in einem unendlichen Raum. Die Ungewissheit, wie es weitergeht, trübt den Blick und schafft keine Perspektive.
Dann hatte ich einen Schlüsselmoment. Ich fuhr im Lift mit dem Rollstuhl auf den Schlossberg. Als ich über die Brüstung einen Blick auf die Grazer Innenstadt erhaschte, stemmte ich mich mit aller Kraft auf. Der Blick von oben auf die Stadt unter mir machte mich frei. In dem Moment wurde mir bewusst: Das Schlimmste liegt hinter mir, ab jetzt geht es nur mehr nach vorne. Ich fand die Lebensfreude wieder. Sie wurde mein Kompass im Nebel.
Mit all dem umzugehen, war und ist nicht leicht. Irgendwann wurde mir klar: Wenn ich mit einem Bein in der Vergangenheit stehe, kann ich nicht mit zwei Beinen in die Zukunft gehen.
Ich habe durch meine Erlebnisse eine Berufung für mich entdeckt. Ich möchte anderen Mut machen, indem ich meine Erfahrungen weitergebe. Das Leben ist lebenswert. Auch wenn nicht mehr alles so ist, wie es einmal war, muss das nicht unbedingt negativ sein. Es klingt pathetisch, wenn ich sage, dass das Positivste ist, dass ich das alles überstanden habe. Aber genauso ist es – ich habe den Sinn des Lebens neu entdeckt. Ich habe gelernt, die kleinen Dinge zu genießen und zu erkennen, was gut für mich ist. Ich schätze ein gutes Essen und kann alle Aromen wahrnehmen. Dass ich gute Musik hören und die Texte verstehen kann. Dass ich in der Unvollkommenheit der Abstrakten Kunst zum Ausdruck bringen kann, dass unperfekt perfekt ist. Dass nicht mehr jedes Detail wie früher bei einer meiner Portraitzeichnungen wichtig ist, sondern das große Ganze zählt.
Und ich schätze auch die Wiedererlangung der großen Dinge. In den 16 Monaten, die ich durchgehend in Krankenhäusern und Reha-Stationen verbracht hatte, habe ich mir nach und nach meine Selbstständigkeit und Unabhängigkeit zurückerobert. Auch wenn ich nicht alleine von A nach B komme, kann ich selber entscheiden, wenn ich von A nach B will.
Und dabei bin nicht alleine. Was immer auch kommt, ich weiß, dass ich eine Gefährtin habe, die das alles mitträgt und mich begleitet. Liebe ist das, was mir hilft, weiterzumachen.
Einige Steine liegen mir noch im Weg, um dorthin zu kommen, wo ich hinwill. Aber ich mache weiter. Wenn sich der Nebel lichtet, gibt es eine Perspektive. Das Ende des Horizonts habe ich noch nicht erreicht. Ich bleibe dran – seid auch ihr mutig und macht immer weiter. Es liegt an einem selbst an das Morgen zu glauben. Jeder Tag kann ein neues Abenteuer sein – auch wenn man eine gute Orientierung hat.
Wolfgang Bauschmid, Graz
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